„Wir müssen nur fortführen, was die Kinder schon können“

Wie unterstützen Aktivität und Bewegung Kinder beim Lernen? Welche Vorteile hat aktives Lernen für Lehrerinnen und Lehrer? Über diese Fragen und welche Rolle dabei die Schuleinrichtung spielt, haben wir mit Schulexpertin und Beraterin Signe Brunner-Orawsky gesprochen. Teil 1: Was ist aktives Lernen?

Frau Brunner-Orawsky, Sie haben zunächst als Pädagogin für Pflegeberufe gearbeitet. Als Ihre jüngere Tochter 2006 eingeschult werden sollte, haben Sie kurzerhand eine eigene Schule gegründet und diese auch geleitet. Nicht gerade der übliche Weg. Wie kam es dazu? Und was war Ihr Ziel?

Nun, meine Tochter war eigentlich die Nutznießerin einer Idee, die gar nicht ihretwegen entstanden ist. Den ersten Anstoß haben viel mehr die Erfahrungen gegeben, die ihr Bruder, mein älterer Sohn, bereits einige Jahre zuvor gemacht hat. Obwohl er zu Hause ein wissbegieriges, interessiertes Kind war, hat er in der Schule sehr schnell die Lust am Lernen verloren. Da habe ich mich natürlich gefragt, woran das liegt, was ihm seine natürliche Lernfreude genommen hat, und mir meine Gedanken über das herrschende Schulsystem gemacht.

Aktiv Lernen in Bewegung - ein Mädchen auf dem Spielplatz

Einige Jahre später, es war 2004, durfte ich im Nachgang der großen PISA-Studie ins Siegerland Finnland reisen, um selbst vor Ort zu erleben, warum die Finnen so gut abgeschnitten haben. Für mich war die Antwort schnell klar: 1. In Finnland sind alle Menschen, die an der Entwicklung von Kindern beteiligt sind, miteinander vernetzt. Vom Kinderpfleger bis zur Schuldirektorin. Sie alle tauschen sich im Sinne der Kinder miteinander aus. Und 2.: Die Bildung der Kinder steht als Priorität an oberster Stelle. Darüber ist sich in Finnland die ganze Gesellschaft einig – und dieser Stellenwert hat enorme Auswirkungen, besonders wenn es um Investitionen geht oder umgekehrt um die Frage: Wo darf nicht gespart werden?

Die Eindrücke dieser Reise haben bei mir enorm nachgewirkt. Mir war klar, dass ich die gewonnenen Erkenntnisse nutzen muss. Ich wollte etwas tun, damit unsere Schulen eine ähnliche Entwicklung nehmen können. Gemeinsam mit befreundeten Eltern haben wir dann das scheinbar Unmögliche wahr gemacht und hier in Heidelberg eine Grundschule gegründet. Für mich stand dahinter immer ein Ziel: Ich möchte für die Kinder in unserer Gesellschaft etwas verändern, verbessern. Und ich fange da an, wo ich als Pädagogin etwas bewirken kann: in der Schule. Im Schulsystem und in der Art und Weise, wie Lernen stattfindet. Das ist bis heute mein Antrieb.

Sie sagen, es geht um eine Veränderung in der Art und Weise, wie Lernen stattfindet. Ein Stichwort der modernen Pädagogik ist „Aktives Lernen“. Was verstehen Sie darunter?

Unser Schulsystem blendet bis heute aus, was die Wissenschaft schon lange weiß: die Bedeutung von Bewegung und Aktivität. Ein Kind, das gesund auf die Welt kommt, beginnt sehr schnell, aktiv die Welt zu entdecken. Es lernt durch Aktivität und in der Bewegung. Dann kommt dieses Kind in die Schule und ihm wird gesagt: „Setz Dich still hin. Und jetzt lerne.“ Das kann ja nicht funktionieren! Eigentlich müssen wir nur fortführen, was die Kinder schon können: sich aktiv die Welt anzueignen. Für Lehrerinnen und Lehrer heißt das, den Kindern Anreize zu geben, sie zu Bewegung zu animieren. Sie können das Lernen aktiv gestalten – und sie können die Kinder selbst aktiv werden lassen.

Mädchen machen Hausaufgaben auf einem Baum

Dieses aktive Lernen hat Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen: Es ist körperlich und findet in Bewegung statt. Das führt oft zu einer besseren Verankerung der Lerninhalte. Aktives Lernen hat aber auch diese Seite, die sagt: „Trau Dich! Probier es aus! Mach etwas anders! Dir kann nichts passieren.“ Auf diese Art und Weise können wir Menschen heranziehen, die neugierig sind, die Veränderung wagen, die kreative Lösungen finden für die vielen Herausforderungen, die sich uns stellen. Solche Menschen brauchen wir. Dringend.

Lesen Sie weiter in Teil 2: Welche Einrichtung kann die Aktivität im Klassenraum positiv unterstützen?


Steckbrief:
Signe Brunner-Orawsky (Jhrg. 1967) ist Diplom-Pädagogin. Nach vielen Jahren zunächst als Pädagogin im Gesundheitswesen, später als Schulgründerin, -leiterin und -beraterin, unterstützt sie heute in ihrem Unternehmen „Schneckenflug“ Kinder (und Eltern), schulische Herausforderungen aktiv zu bewältigen. Und sie berät Schulen und Pädagogen auf dem Weg zu neuen, aktiveren Lernformen. Signe Brunner-Orawsky lebt und arbeitet in Heidelberg und ist Mutter zweier erwachsener Kinder.